ADHS – Behandeln ohne Ritalin
Das ADHS (früher auch „Hyperkinetisches Syndrom“) ist eine der meistumkämpften Diagnosen der gegenwärtigen Kinder- und Jugendmedizin und der (Schul-) Pädagogik. Die Kontroverse um eine angemessene Behandlung für diese Störung der kindlichen Entwicklung ist eng verknüpft mit der Frage nach den Ursachen und damit nach der Gesellschaft, in der wir leben: Beruht das ADHS auf einer angeborenen Mangelversorgung von Synapsen des Frontalhirns mit Dopamin, die sich medikamentös beheben lässt, oder ist es Produkt der veränderten Lebenswelt heutiger Kinder und verlangt deshalb nach anderen Antworten als der Verordnung von Pillen?
Der Begriff AD(H)S = Aufmerksamkeits-Defizit-(Hyperaktivitäts)-Syndrom ist eine etwas holprige Eindeutschung des entsprechenden englischen Fachbegriffs. Die Klammern stehen für Kinder, die den eher verträumten, ruhigen Typus der Störung verkörpern: das „ADS“.
Die Symptome werden vom wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer folgendermaßen beschrieben: „Störung der Aufmerksamkeit mit Mangel an Ausdauer bei Leistungsanforderungen und die Tendenz, Tätigkeiten zu wechseln, bevor sie zu Ende gebracht wurden; unruhiges Verhalten insbesondere mit Unfähigkeit, stillsitzen zu können. Impulsivität z. B. mit abrupten motorischen und/oder verbalen Aktionen, die nicht in den sozialen Kontext passen.“
In den vergangenen 30 Jahren haben wir immer wieder Kinder mit diesen, anfangs noch nicht ADHS genannten, Verhaltensauffälligkeiten behandelt und konnten feststellen, dass die Methoden der chinesischen Medizin, allen voran die chinesische Arzneitherapie, eine wirksame Hilfe darstellen. Oft genug konnten auf diesem Wege die Voraussetzungen für weiterführende pädagogische oder psychotherapeutische Maßnahmen geschaffen werden.
Die zuständigen Fachgremien fordern ein „multimodales“ Vorgehen, empfehlen aber einen eher zurückhaltenden Gebrauch von Medikamenten. Die Arzneimittelrichtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen vom 16.9.2010 schreibt vor, dass Psychostimulanzien beim ADHS nur verordnet werden dürfen „im Rahmen einer therapeutischen Gesamtstrategie, wenn sich andere Maßnahmen allein als unzureichend erwiesen haben, bei Kindern (ab sechs Jahren) und Jugendlichen.“
Die Praxis jedoch sieht anders aus: Häufig erhebt der Kinder- und Jugendpsychiater, meist ohne Rücksprache mit dem Lehrer des Kindes, im Schnellverfahren die Diagnose, verordnet ein Psychopharmakon und leitet dann, wenn dies noch nicht von anderer Seite erfolgt ist, psychotherapeutische und spezielle pädagogische Maßnahmen ein. Letzteres fällt allerdings häufig unter den Tisch.
Als Medikament wird in den meisten Fällen Methylphenidat (Ritalin) verordnet.
Nicht-medikamentöse Behandlungen werden von unterschiedlichen psychotherapeutischen Richtungen und Schulen angeboten. Hier stehen sich zwei Weltanschauungen gegenüber. Auf der einen Seite sehen wir die von der Verhaltenstherapie herkommenden Methoden des Aufmerksamkeits- und Kooperationstrainings, auf der anderen Seite die verschiedenen Schulen der Tiefenpsychologie, der Gesprächs- und Spieltherapie sowie die Erlebnispädagogik. Glücklicherweise verliert dieser Fundamentalkonflikt, dem unterschiedliche Menschenbilder zu Grunde liegen, ein klein wenig von seiner Schärfe, wenn wir von der Theorie in die Praxis gehen: Auch ein Verhaltens- und Lerntraining gelingt am besten, wenn Trainer oder Lehrer eine emotionale Beziehung zu den Kindern gewinnen und diese ein gedeihliches soziales Klima untereinander aufbauen können. Umgekehrt kann auch eine erlebnispädagogische Freizeit nicht darauf verzichten, klare Rahmenstrukturen vorzugeben und den Kindern bestimmte Verhaltensregeln einsichtig zu machen.
Alle nicht-medikamentösen Behandlungsrichtungen teilen die Überzeugung, dass eine nachhaltig stabile Besserung der ADHS-Symptomatik nicht von heute auf morgen erfolgen kann, sondern eines längeren Lern- und Entwicklungsprozesses bedarf.
Es bleibt die Frage nach dem Stellenwert der medikamentösen Behandlung. Die Gabe von Ritalin und anderen Psychostimulanzien wird immer wieder hirnphysiologisch oder genetisch begründet. Die wissenschaftliche Herleitung dieser Begründungen hat uns bisher nicht überzeugen können (s. unsere ausführliche Stellungnahme zum ADHS in der gegenwärtigen Diskussion). Ein weiteres Argument ist die rasch eintretende Wirkung. Diese bringt sofortige Entlastung für die bis an die Grenze des Erträglichen strapazierten Eltern oder Lehrer, außerdem, so wird gesagt, schaffe es die Voraussetzung für weitere psychotherapeutische oder pädagogische Maßnahmen.
Als Biochemiker und Arzt habe ich mich seit bald vier Jahrzehnten mit der Wirkstruktur von Medikamenten auseinandergesetzt, die rasch Symptome lindern, deren Nutzen-Risiko-Bewertung in der Langzeiteinnahme aber zahlreiche Fragen aufwirft.
Wir haben den Eindruck, dass auch Methylphenidat in diese Rubrik gehört. Auf der Suche nach therapeutischen Alternativen sind wir in den späten 70er Jahren des letzten Jahrhunderts auf die Methoden der chinesischen Medizin gestoßen. Sie versprechen, richtig angewandt, tatsächlich so etwas wie eine Quadratur des Kreises: Förderung von Prozessen innerer Entwicklung, die zu nachhaltiger Stabilität führen und gleichzeitig eine kurzfristig einsetzende, spürbare Linderung der Symptome. Dieses therapeutische Werkzeug erlaubt es uns, bei der Behandlung von ADHS auf Ritalin und vergleichbare Medikamente gänzlich zu verzichten.
Das multimodale Behandlungskonzept der Klinik am Steigerwald besteht, auf eine Formel gebracht, in einer Kombination der TCM, insbesondere der Arzneitherapie, mit gesprächs-, spiel- und bewegungstherapeutischen Angeboten, Lern- und Aufmerksamkeitstraining, Schulunterricht sowie Elternberatung.
Allein der Methodenschatz der TCM umfasst, neben der Verordnung von Arzneipflanzen, die Akupunktur (bei Kindern eher Akupressur von Ohrpunkten), Körpertherapien wie Tuina, Shiatsu, Qi Gong, wärmende Anwendungen. Alles dies auf der Basis einer eingehenden chinesischen Diagnose. In der ausführlichen Eingangssitzung machen wir uns ein Bild von der Verhaltenssymptomatik des Kindes und eruieren gesprächsweise weitere im Rahmen einer chinesischen Diagnose-Stellung aussagekräftige Fakten der Vorgeschichte. Wichtig in dem Zusammenhang ist die Frage nach den durchgemachten oder nicht durchgemachten Infekten und die Art und Weise, wie das Kind mit psychischen Belastungen umgegangen ist und umgeht. Die chinesische Diagnostik liefert die maßgeblichen Daten, die es erlauben, individuell passende Arzneirezepturen zusammenzustellen.
Unter den zahlreichen Varianten, die wir beim hyperkinetischen Syndrom beobachten können, seien vier Typen herausgehoben:
- Das verträumt unaufmerksame Kind (früher: ADS);
- Das motorisch unruhige, impulsive Kind;
- Das unruhige Kind mit aggressiven oder destruktiven Tendenzen;
- Das Kind, bei dem die Lernbehinderung im Vordergrund steht.
Diese Typologie erlaubt erste Weichenstellungen, was die Auswahl der geeigneten Therapien betrifft. Nach Diagnosestellung werden aus den ca. 300 chinesischen Heilpflanzen, die wir in der Klinik am Steigerwald bevorraten, 2 – 8 für eine Rezeptur ausgewählt. Um zwei Beispiele zu nennen: Radix Bupleuri, die Wurzel einer chinesischen Heilpflanze mit dem deutschen Namen „Hasenohr“ hilft, chaotische Aktivitäten zu glätten; die Uncaria-Pflanze wird eingesetzt, wenn die aggressive Komponente der Impulsivität im Vordergrund steht. Die zur Rezeptur zusammengestellten Arzneipflanzen werden durch Kochen aufgeschlossen. Das so gewonnene „Dekokt“ wird möglichst gleichmäßig über den Tag verteilt wie ein Tee eingenommen. Unter der Einnahme der Rezeptur lassen sich bald Veränderungen in Befindlichkeit und Verhalten des Kindes beobachten, die gelegentlich eine Anpassung der Verordnung erforderlich machen.
Mit verlaufsbezogenen Änderungen der Arzneirezeptur wird solchen Entwicklungen Rechnung getragen. Auch aus diesem Grunde sollte die Arzneibehandlung nach der Entlassung aus der Klinik einige Monate lang weiter betreut werden. Dazu reichen regelmäßige telefonische Kontakte mit dem behandelnden Arzt der Klinik am Steigerwald. Für Kinder, die im Umkreis der Klinik am Steigerwald wohnen, bietet sich eine persönliche Konsultation bei einem unserer Ambulanzärzte an. Wer regelmäßige Termine zur Entspannungs- und Spieltherapie oder zum Lerntraining wahrnimmt, kann dies auch mit weiteren Arztterminen kombinieren.
Es ist nicht selten und durchaus auch wünschenswert, dass die Kinder unter der Therapie Atemwegsinfekte entwickeln. Diese lassen sich in aller Regel problemlos mit chinesischen Mitteln behandeln; es sollten auch ohne Not keine symptomatischen Mittel wie Antibiotika, Abschwell-Sprays oder Fiebersenker verordnet werden. Insbesondere nach durchgemachten fieberhaften Zuständen beobachten wir immer wieder, dass das Kind offensichtlich eine Art Entwicklungssprung vollzogen hat, wonach es reifer und gefestigter wirkt als vor dem Infekt. Derartige Beobachtungen geben Hinweise auf die psychoimmunologische Seite des ADHS, ein Aspekt, der vom chinesischen Krankheitsverständnis her naheliegend ist. So ist immer wieder die Meinung geäußert worden, dass ein Zusammenhang besteht zwischen der Zunahme des ADHS in den letzten Jahren und der Durchimpfung unserer Kinder. Für die immunologischen Abteilungen unserer Universitäten könnte sich hier ein sinnvolles Forschungsfeld eröffnen. In jedem Fall ist es ratsam, derartige Infekte hier in der Klinik (auch telefonisch) behandeln zu lassen, oder, falls möglich, einen Arzt aufzusuchen, der eine passende naturheilkundliche Einstellung hat.
Weitere Informationen und Ansprechpartnerin:
Klinik am Steigerwald
Frau Reiter-Schmincke