Medizin braucht Mitgefühl

Medizin braucht Mitgefühl

Heilmittel Achtsamkeit: Meditation und ärztliche
Zuwendung stärken die Selbstheilungskräfte.  Das
ist belegt. In Deutschland gilt die sprechende Medizin dennoch wenig.

Leise tritt der Chefarzt an das Bett. »Sind Sie
bereit?«, fragt er den darmkranken Patienten.
»Dann legen Sie sich bequem auf den Rücken und
nehmen Sie sich wahr, wie Sie jetzt daliegen.«
Der Arzt lädt den Kranken ein, sich auf seinen
Atem zu konzentrieren, »wie er geht und kommt,
geht und kommt …« Ganz langsam leitet er den
Kranken mit seiner Aufmerksamkeit durch den
Körper, Schritt für Schritt, von den Fersen bis
zu den Haarwurzeln. Der Arzt spricht langsam, der
Patient liegt ganz still. Als der Kranke nach
einer halben Stunde wieder aufblickt, sind seine
Augen ruhiger geworden. Der schmerzverspannte
Gesichtsausdruck hat sich etwas gelöst. »Danke«, sagt der Mann.

Diese Beschreibung eines Chefarztbesuchs in
Deutschland ist wahr  und gleichzeitig nicht
wahr. Es ist nicht wahr, dass Klinikärzte in
Deutschland Zeit und Muße haben, sich eine halbe
Stunde ans Bett eines einzelnen Kranken zu
setzen, um mit ihm zu meditieren. Und es ist auch
nicht üblich, die Selbstheilungskraft der
Patienten durch mentale Übungen anzusprechen.

In der von Fallpauschalen und technischen
Apparaten bestimmten westlichen Medizin stehen
zwar aufwendige Diagnoseverfahren zur Verfügung,
aber der Kontakt mit den Patienten wird immer
dünner. Allenthalben verbreitet ist die
»Kabinenmedizin«, in der die Hilfesuchenden halb
entkleidet auf den Arzt warten, der in schneller
Eile von Kabine zu Kabine schreitet. Laut dem
Nachrichtenmagazin Spiegel unterbrechen deutsche
Ärzte die Erklärungen ihrer Patienten im Schnitt
nach 18 Sekunden. Ungefähr ein Drittel der
Deutschen findet das Gesundheitssystem schlecht und will etwas ganz anderes.

Auch Ärzte und Krankenpfleger sind damit vielfach
unglücklich, sehen sich aber unter dem
allgegenwärtigen Zeit- und Kostendruck nicht in
der Lage, auch noch Mitgefühl für die Patienten zu entwickeln.

Christian Jakobeit versucht es trotzdem. Der
Internist im Stadtteilkrankenhaus St. Josef in
Bochum-Linden ist sicher, »dass man mit Zuwendung
und alternativen Therapieverfahren oft mehr
erreichen kann als die Schulmedizin«. Gemeinsam
mit seiner Kollegin von der Kardiologie hat
Jakobeit die Achtsamkeitsschulung MBSR (Mindful
Based Stress Reduction) erlernt, eine meditative
Methode aus den USA, die auf der eigenen
Wahrnehmung beruht und die Selbstheilungskraft
der Patienten aktivieren soll. Gerade bei den
Magen-, Darm- und Leberpatienten seiner
Abteilung, meint der Internist, können solche
Methoden viel zur Besserung beitragen. Deshalb
setzt er sich auch selbst ans Bett und übt mit
den Patienten. Die Kranken, erzählt Jakobeit,
»nehmen das Angebot dankbar an. Unser Krankenhaus
genießt einen guten Ruf. Aber die Krankenkassen
bezahlen so etwas nicht.« Und weil er als Chef
der Inneren Abteilung auch noch vieles andere zu
tun hat, schafft er das höchstens zwei- oder dreimal die Woche.

Jakobeit ist einer der Teilnehmer des Kongresses
Medizin, Achtsamkeit & Mitgefühl in Köln. Zu
diesem Kongress sind im Sommer 2007 die
prominentesten Vertreter der
achtsamkeitsorientierten Medizin und Psychologie
aus den USA an den Rhein geflogen. Achtsamkeit
(»Mindfulness«) gilt als eines der bedeutendsten
therapeutischen Neukonzepte aus den USA, in deren
Mittelpunkt die aufmerksame Wahrnehmung steht.
Patienten lernen, darauf zu achten, was in ihrem
Körper und in ihrem Geist geschieht. Mediziner
lernen, achtsam wahrzunehmen, was in ihren
Patienten passiert. Etwa 250 Krankenhäuser und
Gesundheitszentren bieten entsprechende Programme
an, rund 40 medizinische Fakultäten haben MBSR in den Lehrplan aufgenommen.

Leitfigur der Bewegung ist der
Verhaltensmediziner und Meditationslehrer
Professor Jon Kabat-Zinn, der MBSR entwickelt und
vor drei Jahrzehnten in Massachusetts eine Stress
Reduction Clinic gegründet hat. Sein Programm
erregt internationales Aufsehen, seine Bücher
erreichen Millionenauflage und sind auch auf
Deutsch erschienen. (Achtsamkeit – englisch
mindfullness – bedeutet: „Ganz in der Gegenwart
im Hier und Jetzt zu sein. Sich seiner Gefühle,
Gedanken und Handlungen voll bewusst zu werden.
Dieses Gewahrsein ist ohne Wertung und kann zu
einer Geisteshaltung werden, die das ganze Leben prägt“. Jon Kabatt-Zinn)

Mit diesem Kongress schwappt eine buddhistische
Aura ins heilige Köln: An jedem Morgen sammeln
sich die Teilnehmer im Vortragssaal zur
Meditation, am Abend tanzen die Nonnen des
Klosters Nagi Gompa einen spirituellen Tanz. Im
Foyer werden Räucherstäbchen, Buddha-Figuren und
Klangschalen angeboten. Auf dem Podium sitzen
nicht nur Mediziner, Hirnforscher und
Psychologen, sondern auch ein tibetischer Mönch
namens Chökyi Nyima Rinpoche. Der Mönch spricht
von Klarheit und Mitgefühl. Jeden Morgen, so rät
er den Heilkundigen, sollen sie als ersten
Gedanken den Wunsch formulieren, diesen Tag voll
Mitgefühl zu leben. Schon dieser Wunsch werde
etwas in ihrer Arbeit verändern. Die
achtsamkeitsorientierte Medizin ist aus der
Berührung mit dem Zen-Buddhismus erwachsen. Sie
hat die Praxis tiefgehender Entspannung aus dem
buddhistischen Umfeld gelöst und auf Arztpraxen,
Kliniken und Hörsäle übertragen.

Trotz dieses ungewöhnlichen Settings sind die
rund 500 Kongressteilnehmer in Köln keineswegs
etwa bloß Kräuterheiler aus der Esoterikszene. In
der Mehrzahl sind es Menschen wie Christian
Jakobeit. Psychologen, Ärzte und Therapeuten, die
unter den Zwängen unseres Gesundheitssystems
leiden und nach heilsameren Wegen suchen: Der
Hausarzt, der auch in Homöopathie ausgebildet und
mit seiner Frau aus Westfalen angereist ist. Sein
junger Kollege, Arzt und Yogalehrer. Die
Mitarbeiterin eines psychologischen Dienstes. Der
Neurologe, der in seiner Praxis auch
Meditationskurse gibt. Die Allgemeinmedizinerin
aus Mittelfranken, die jetzt in einem
Palliativprojekt arbeiten will, um intensiver mit Menschen zu tun zu haben.

Daniel J. Siegel gibt ihrer Suche eine
wissenschaftliche Grundlage. Der amerikanische
Psychiater und Autor des Bestsellers »Wie wir
werden, die wir sind« steht in Köln vor einer
leinwandgroßen Darstellung des Gehirns und deutet
auf den mittleren cingulären Kortex und in die
Inselrinde. Diese Hirnregionen sind nach neueren
Forschungen zuständig für Empathie und
Bindungsfähigkeit, für die Verarbeitung von
Stress und Schmerzen und die Fähigkeit zur
Harmonie. Sind diese Hirnareale geschädigt,
werden Menschen gefühllos und »seelisch tot«.
Durch Übungen der Achtsamkeit aber werden der
mittlere cinguläre Kortex und die Inselrinde
verstärkt und intensiver vernetzt. Bei
meditierenden Menschen sind diese Gehirnbereiche deutlich vergrößert.

Die deutschen Kongressteilnehmer folgen ihm
gebannt. Sie brauchen solche Argumente, um
Schulmediziner und Krankenkassen zu überzeugen.
Wo persönliche Heilungsgeschichten wenig bedeuten
und das Wohlbefinden der Patienten kaum ins
Gewicht fällt, müssen Hirnforschung und
Fallstudien den Beweis erbringen, dass Zuwendung
und Achtsamkeit tatsächlich heilen. Doch trotz
der deutlichen Erkenntnisse zur heilsamen Wirkung
zwischenmenschlicher Beziehung, die neuerdings
auch von der Placebo-Forschung bestätigt werden,
müssen wir hierzulande wohl noch viel Zeit allein
in Kabinen und mit Apparaturen verbringen, bevor
tatsächlich von einer Wende in der Medizin gesprochen werden kann.

In Köln aber hat sie schon begonnen. Die
Teilnehmer des Kongresses Medizin, Achtsamkeit
und Mitgefühl fühlen sich in ihrer Suche nach
achtsameren Wegen bestärkt. Christian Jakobeit
will sich jetzt mit anderen Vertretern dieser
Medizin vernetzen und in seiner Klinik weitere
Mitarbeiter dafür gewinnen. Denn eigentlich, das
spüren fast alle Teilnehmer nach diesem Kongress,
haben die Amerikaner hier nicht etwas völlig
Neues eingebracht. Es war eher eine Rückbesinnung
auf das eigentliche Wesen der Medizin, eine
Renaissance echter Heilkunst. »Die beste Arznei
für den Menschen ist der Mensch. Der höchste Grad
der Arznei ist die Liebe«, sagte schon Paracelsus.

Eva Baumann-Lerch

Aus: Publik-Forum Nr. 15 v. 17.8.2007

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